Nachhaltigkeit muss ganzheitlich gedacht werden

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Eigentlich haben aktuarische und nachhaltige Denkweisen so einiges gemeinsam. Bei beiden geht es um Risikominimierung und beide streben danach, die Wahrscheinlichkeit von schädlichen Events zu reduzieren. Jedoch steht beim Thema nachhaltiges Wirtschaften die Zukunft aller auf dem Spiel. Auch der Versicherungsbranche wird dabei Verantwortung zuteil.

Ein Beitrag von Christian Küchler, Director bei EY-Parthenon Financial Services

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Auf der einen Seite steht die Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit, denn die gesamte Industrie ist groß genug, um bedeutende Ergebnisse zu erzielen und von Dritten nachhaltiges Verhalten einzufordern. Auf der anderen Seite gegenüber sich selbst. Nachhaltigkeit nimmt bei allen Stakeholdern immer mehr Raum auf der Agenda ein und wird somit zunehmend ein dominierender Faktor in der langfristigen Erfolgsgleichung.

Mit einer allumfassenden Nachhaltigkeitsstrategie, die nicht nur auf die ökologischen, sondern auch auf Aspekte der sozialen Verantwortung und bedeutsamen Unternehmensführung einzahlt, können sich Versicherungsunternehmen beste Chancen auf eine langfristige Outperformance sichern.

Versicherungsbranche hinkt hinterher

Die Versicherungsbranche befasst sich selbstverständlich nicht erst seit gestern mit Nachhaltigkeit. Mit dem Konzept des CSR legen sich auch Versicherer schon seit längerem ein Regelwerk auf, um ihrer unternehmerischen sozialen Verantwortung gerecht zu werden. Der moderne Nachhaltigkeitsbegriff geht hingegen weiter und betrifft nahezu jeden Aspekt der operativen Tätigkeit. Eine Vielfalt von Standards, Vorgehensweisen und Regulierungen versucht Ordnung zu bringen – schafft aber zugleich Komplexität und Unsicherheit.

Die regulatorischen Vorgaben sind zudem schwammig und lassen viel Interpretationsspielraum zu. Bis sich allgemeingültige Standards etabliert haben, sollte ein hauseigener, quantifizierbarer Ansatz für Licht im Dschungel sorgen. Außerdem bietet sich für Versicherer damit die Chance, bei der Gestaltung von zukünftigen Standards mitzuwirken.

Industrieübergreifend gibt es inzwischen viele Studien und Hinweise darauf, dass zielgerichtetes Nachhaltigkeits-Engagement große, bisher ungenutzte Wertschöpfungspotenziale freisetzen kann und letztendlich zu Outperformance und gleichzeitiger Risikomitigierung führt.

Dennoch tun sich viele Vorstände bei Versicherungen schwer, Nachhaltigkeit in die Unternehmensstrategie einzubinden und messbar zu machen. Ein größeres Hindernis dabei ist ein Abwägungsproblem bei der Umsetzung von Maßnahmen zur Dekarbonisierung. Mit Ursprung im klassischen Finanzsektor steht dieser ESG-Teilbereich besonders im regulatorischen Fokus und betrifft auch die Versicherungsbranche.

Die Führungsetage muss sich die Frage stellen, ob sie eine sture Dekarbonisierung ihres Portfolios – also mit Blick auf Kunden und Investitionen – verfolgen möchte, wobei es zu Ausschlüssen kommen kann. Oder ob es nicht sinnvoller ist, den Nachhaltigkeitswandel der Kunden und Firmen zu begleiten und zu beschleunigen.

Letzteres mag zunächst mit mehr Aufwand verbunden sein, sollte aber mittel- bis langfristig eine größere Wirkung entfalten – sowohl für die Dekarbonisierung der Gesamtwirtschaft als auch für die eigene Outperformance.

Momentan gibt es seitens der Regulatorik noch viel Entscheidungsfreiheit, die genutzt werden kann, um zukünftige ESG-Richtlinien mitzugestalten und die Performance-Potenziale rechtzeitig zu sichern. Doch das regulatorische Korsett wird zunehmend enger geschnürt. Die Implementierung einer holistischen, auf allen Ebenen verankerten Nachhaltigkeitsstrategie ist keine „Ob“- sondern eine „Wann“-Frage. Wer aber lediglich auf regulatorische Vorgaben wartet, die die ganze Branche zu Anpassungen zwingt, verpasst einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil.

Der Stakeholder-Ansatz setzt sich durch

Im Wandel zur Nachhaltigkeit ist der Druck durch die breite Öffentlichkeit nicht zu unterschätzen, deren Stimme durch moderne Kommunikationsplattformen wie Social Media ein ganz anderes Gewicht bekommt. Auch bei Stakeholder-Gruppen mit vermeintlich gewinnorientierteren Zielen haben die jüngsten Krisen zu einem besseren Verständnis für die Bedeutung nachhaltigen Agierens für die Resilienz, beispielsweise von Lieferketten, geführt.

In der Folge zeigen Versicherungskunden ein stärkeres Interesse an nachhaltigen Produkten. Investoren verlangen die Offenlegung von Nachhaltigkeitsambitionen und eine Erklärung, wie diese langfristig Werte schaffen. Nicht zuletzt ist Nachhaltigkeit auch für die eigene Belegschaft immer häufiger ein entscheidendes Kriterium, das über den Verbleib im Unternehmen oder über die Qualität von Neueinstellungen entscheidet.

Versicherungen müssen sich also von der klassischen Shareholder-Perspektive verabschieden und eine Stakeholder-Orientierung einnehmen. Das ist zugegebenermaßen ein Mammut-Projekt und kann nur funktionieren, wenn Nachhaltigkeit breit gefächert und ganzheitlich betrachtet wird. Das übergeordnete Ziel sollte eine Haltung zu ESG sein, die zukunftsfähig ist und langfristige Werte für alle Stakeholder schafft. Andernfalls riskieren Versicherungen offene Flanken – und eine einzige unzufriedene Stakeholder-Gruppe kann ausreichen, um das Unternehmen in massive Schwierigkeiten zu bringen.

Wo Nachhaltigkeit gehebelt werden kann

Auch wenn eine Nachhaltigkeitsstrategie holistisch sein sollte, lassen sich einige besondere Bereiche im Versicherungsunternehmen identifizieren, die adressiert werden müssen, um alle Interessensgruppen bestmöglich abzuholen. Im Fokus stehen zunächst die materiellen Herausforderungen – also diejenigen Bereiche, bei denen Nachhaltigkeitsinvestitionen einer möglichen Outperformance am zuträglichsten sind.

Ein solcher Bereich ist das Produktdesign und das Lifecycle Management. Dabei geht es um Policen, die nachhaltiges Verhalten fördern und belohnen. Wenn Versicherungskunden mit den richtigen Anreizen ihre eigene Resilienz erhöhen, kann die Schadensquote gesenkt werden und der Versicherer wettbewerbsfähigere Prämien anbieten.

Ebenso wichtig und eng damit verknüpft ist das Anlageverhalten am Kapitalmarkt. So wie das eigene Unternehmen durch Nachhaltigkeitspraktiken an Resilienz gewinnt, gilt das auch für alle anderen investierbaren Werte. Durch einen Investment-Fokus auf nachhaltige Unternehmen kann einerseits das Anlagerisiko minimiert und andererseits Wirkung erzielt werden.

Die jüngere Vergangenheit hat gezeigt, dass Unternehmen mit forcierten ESG-Bemühungen insbesondere in Krisenzeiten von vergleichsweise höheren Aktienkursen und geringeren Ausfallrisiken auf der Refinanzierungsseite profitieren. Weiteres Renditepotenzial bei nachhaltigen Investments ergibt sich durch positive ESG-Schocks. Darunter sind Ereignisse zu verstehen, die akut das Bewusstsein für nachhaltiges Wirtschaften steigern, wie etwa die Flutkatastrophe im vergangenen Jahr.

Ein weiterer wichtiger Hebel ist Transparenz und faire Beratung im Vertrieb – hierdurch wird die Marke gestärkt und sollte eigentlich ein Selbstläufer sein, aber nicht überall wird die Informationspflicht gegenüber dem Kunden angemessen gehandhabt. Versicherungspolicen müssen eindeutig sein und nach objektiv bestimmtem Versicherungsbedarf vertrieben werden. Die Produktbedingungen müssen klar kommuniziert werden und irreführende Verkaufspraktiken sind sowieso ein absolutes No-Go.

Darüber hinaus sollte ein anspruchsvolleres Risikoengineering künftig deutlich intensiver die Folgen der akuten Klimakrise, das Environmental Risk Exposure, miteinbeziehen. Die Technologie und die Daten dafür sind häufig bereits vorhanden, werden aber zu selten genutzt, um akkurate Modellierungen zu realisieren.

Nicht zuletzt darf Nachhaltigkeit auch vor dem systematischen Risikomanagement nicht halt machen. Risikomanagement muss in der Form aufgestellt sein, dass kein systemisches Risiko vom eigenen Haus emittiert wird. Essenziell ist dabei ein ausgeprägtes Bewusstsein des Versicherers über seine systematische Rolle im Finanzsystem und auch der Realwirtschaft. Trotzdem muss die eigene Risikoabsorptionsfähigkeit weiterhin aktiv gemanagt werden.

Keine Outperformance ohne Investitionen

Erste Beispiele für die nachhaltige Anpassung der materiellen Handlungsfelder gibt es bereits. Einige Versicherungen, sowohl national als auch international, haben sich auf ein ESG-bewusstes Investitionsverhalten festgelegt. Andere bieten Risikoprävention für ihre Kunden an oder belohnen umsichtiges Risikoverhalten mit Gutschriften. Manche bauen verstärkt ihr Know-How aus und stellen Experten ein, wieder andere setzen auf Partnerschaften mit spezialisierten Anbietern.

Diese Ansätze sind grundsätzlich positiv zu bewerten, denn irgendwo muss der erste Impuls gesetzt werden. Wichtig ist, dass die einzelnen Handlungsfelder nicht isoliert betrachtet werden. Vielmehr ist jeder Bereich als Teil eines komplexen Uhrwerks zu verstehen. Fällt ein Teilbereich aus, funktioniert auch das Gesamtwerk nicht.

Nachhaltigkeit ist eine große Herausforderung und darf kein Projekt sein, das nebenherläuft. Deshalb werden insbesondere im materiellen Bereich viele Ressourcen benötigt, wie etwa dezidierte Teams für die Produktentwicklung, spezialisierte Risikoingenieure oder weitere Mittel im Business Development-Bereich.

Der Weg ist noch lang und Nachhaltigkeit wird immer weiter an Fahrt aufnehmen. Wer nicht abgehängt werden will, sollte sichergehen, dass das Thema in der obersten Ebene des Versicherungsunternehmens gesetzt ist. Davon abgesehen: Mit einem progressiven Mindset kann Nachhaltigkeit eine hervorragende Chance für die gesamte Versicherungsbranche sein, ihr angestaubtes Image zu überwinden.

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